Klänge zwischen Zeit und Ewigkeit

 

Läutesitten in Europa

 

Beiern, Escillon, Tessiner Glockenläuten

Das Läuten der Glocken ist bis in unsere Tage- Teil der Landeskultur in Deutschland und Europa und das akustische Zeichen der christlichen Kirchen. 

Aus den Anfängen der Glocke haben sich, wie in Sprache und Dialekt, Kulturkreis, Region und Mentalität unterschiedlicher Volksgruppen, eine bunte Palette von Läute-Bräuchen und Läute-Sitten heraus kristallisiert. In weiten Bereichen Zentraleuropas ist das frei schwingende Glockenläuten nach einer vorgegebenen Läuteordnung beheimatet. 

Das Beiern entspricht in weiten Teilen dem russischen Glockenschlagen , wobei der  ein am Klöppel festgebundenes Seil an den inneren Glockenrand gezogen wird. Je nach Anschlagshärte erklingen unterschiedliche Klangfarben.

Im Unterschied zum russischen Glockenschlagen werden die Glocken beim Beiern frei schwingend aufgehängt und in der Regel auch so geläutet. Nur von Zeit zu Zeit, zu besonderen Anlässen und an besonderen Festen, bringt man die Seilzüge zum Beiern an den Klöppeln an und zieht diese an den Schlagring der Glocken.

Glockenbeiern, wie es vor allem im Rheinland auch heute noch gepflegt wird. Pontificale ecclesiae beatae Mariae Trajectensis, besser bekannt unter Stundenbuch der Katharina von Kleve, um 1450


Vor allem im Rheinland und in weiten Teilen Norddeutschlands war das „Beiern“ verbreitet. Dort können wir es seit dem frühen 15. Jh. nachzuweisen. Heute wird das Brauchtum des Beierns wieder mehr und mehr gepflegt, vor allem zu besonderen Anlässen wie Neujahr, Jubiläen und Festen wie Weihnacht, Ostern, Kirchweih oder auch bei ganz eigenen Glocken-Konzerten.

Läute-Bräuche wie im Rheinland finden wir u.a. auch im Tessin, Tirol und Südtirol, Südfrankreich und in Spanien und in weiteren Regionen Südeuropas. Den an eine Sportart erinnernden Läute-Sitten in England und Russland ist unten jeweils ein eigener Absatz gewidmet.

Diese Läute-Bräuche zu pflegen und damit zu erhalten ist Aufgabe der Menschen jeder Zeit und jedweder Kulturlandschaft. Einheit in Vielfalt macht nicht nur die Sprache der Glocken interessant und hält sie lebendig.

Durch diese Läute-Sitten und die liturgische Vielfalt des Läutens, erhalten Glocken eine weitere Dimension ihrer Klang-Sprache.

Das liturgische Läuten, so nennen wir das Läuten zum Gottesdienst und Gebet, soll mit dem Glockenklang und mit variablen Tonfolgen, die Stimmung des jeweiligen Festes widerspiegeln. Einzeln erklingen Glocken zum Angelus-Gebet dreimal am Tag. Sie geben der Zeit einen Rhythmus.  Weihnachtsglocken erwecken andere Stimmungs-Bilder als Glocken an Ostern, Hochzeits-Glocken andere als die Trauer, Freude, Advent oder die Fastenzeit. Diese Stimmung soll in unterschiedlichen Motiven –das sind die Tonfolgen des Geläuts- ihren Ausdruck finden, damit die Menschen die Sprache und die Klangfarben der Glocken verstehen und deuten können.

Glockenläuten als Hochrisiko-Sportart, Osterläuten im Dom von Sevilla.


"Glockenläuten" im Dom von Sevilla

  

Das Change-Ringing auf den Britischen Inseln

Die Anfänge des Change Ringing, des Wechsel- oder Variationsläutens, gehen wohl auf König Heinrich III. im frühen 13. Jh. zurück.

Die Westminster-Gilde in London, um nur eine zu nennen, wurde bereits im Jahre 1254 von Heinrich III. anerkannt.

Diese Läute-Sitte ist -mit wenigen Ausnahmen und in leicht abgewandelter Form- nur auf den Britischen Inseln beheimatet. 

Das heute übliche Change-Ringing kam erst Anfang des 17. Jh. auf. Seit dieser Zeit stehen die Läutegilden im Wettbewerb um die meisten „Wechsel“, den mit diesem Geläut möglichen Variationen der Tonfolgen.

Dorothy Sayers sollten wir für ihren Krimi „Der Glocken Schlag“, im Original „The Nine Tailors“ dankbar sein. Sie schaffte es, selbst in unserem kurzen Ausschnitt ihres spannenden und  humorvollen Kriminalromans, wenigstens einige Stufen der Erkenntnis zum Olymp des Change-Ringing emporsteigen zu lassen.

König Heinrich III. auf dem Thron, zeigt auf die Glocken der Westminster Abbey. Peter de Langtoft, Chronik von England, England zwischen 1307– 1327, Royal British Library.

Die Glocken werden beim Change-Ringing mit dem Läuteseils eingeschwungen, bis sie auf dem Kopf stehen und der Klöppel und Glockenmund zur Decke zeigen. 

Haben Sie denn auch eine gute Glöckner-Mannschaft erkundigte sich Sir Wimsey. Oh ja, sagte der Pfarrer mit stolz, großartige Burschen. In dieser Nacht gedenken wir das neue Jahr mit fünfzehntausend und achthundertvierzig Wechseln Kent Treble Bob Major einzuläuten. Allmächtiger, mit fünfzehntausend, rief Wimsey - und achthundertvierzig, vollendete der Pfarrer.

Wimsey dachte nach. Das gibt etliche Stunden Arbeit. Neun, belehrte ihn der Pfarrer, … der nie jemanden einen Satz zu Ende reden ließ. Alle Achtung, sagte Wimsey und schüttelte ungläubig den Kopf.

Etwas Schöneres als Kent Treble Bob Major gibt es einfach nicht schwärmte der Pfarrer Pfarrer und entschwebte selig in die Höhen des Glockenturms und bemerkte nicht, dass ihm die Butter seines Hefeküchleins über die Ärmel seines Talars lief.

Change-Ringing in der Glockenstube der „Cathedral Church of St Peter“ von York, Foto: GAK


Eine besondere Vorrichtung hält die Glocke in dieser Stellung. Nun werden die Glocken in einem bestimmten Wechsel, d. h. in einer bestimmten Reihenfolge gezogen. Bei jedem Mal mit einer ganzen Umdrehung um die eigene Achse, mit allen möglichen Variationen in der Reihenfolge der Glocken und Töne.

Weil dieses Läuten nicht gerade leicht und bisweilen sehr gefährlich ist -ich vermute es ist wohl so eine Art von Nationalsport- gibt es seit dem Mittelalter die Läute-Gilden der Change-Ringers mit strengen Aufnahme Regeln und ausgiebigen Läute- Prüfungen.

So schildert Rabelais das Glockenläuten der Mönche, Zeichnung: Gustave Doré (1832-1883).












Zu tiefem Verständnis dieses Change-Ringing könnte uns auch Händel mit der musikalischen Inszenierung verhelfen, die  er zur Krönung von King George II. im Jahre 1727 schrieb. Bei dieser bombastisch komponierten Festmusik durften einige Passagen mit Change-Ringing, begleitet von Trompeten und "Good save King George", nicht fehlen.

 


Das Glockenschlagen der Orthodoxen Kirche

In Russland werden Glocken erstmals um das Jahr 1000 erwähnt. Glockenfunde in der Nähe von Kiew bestätigen dies.

In der Region von Nowgorod entwickelte sich dann seit dem frühen 14. Jahrhundert, wie auch in anderen Sparten der altrussischen Kunst, eine ganz eigenständige nationale Form des russischen Glockengeläuts.

In Nowgorod entstanden in dieser Zeit die ersten Glockengießereien und Gießschulen. Die Glockengießer zählten zu den hoch angesehenen Berufen, Als Blütezeit der russischen Glockengießkunst dürfen wir das 16. bis 19. Jh. annehmen.

Viele Reiseberichte dieser Zeit erwähnen das beeindruckende oder oft seltsam empfundene Glockenschlagen. Den bekanntesten Bericht über Läuteordnung und Läutetechnik schrieb Adam Olarius im Jahre 1656. Er berichtet von großen Läutemannschaften und bebildert seine Erzählung mit lehrreichen Illustrationen.

Glockenguss in der Stadt Tver, begleitet vom Klang einer am Seil geläuteten Glocke, in Russland eine Seltenheit. In Tver wurden im frühen 15. Jh. die bedeutenden Glocken für die Stadt Moskau gegossen.[
Das Glockenschlagen der Moscoviter, Joh. Arnold von Brand-Wesel, 1702.

Die Varianten Glocken zu läuten, wurde immer vielfältiger und in Nowgorod wurden in den Kirchenordnungen, die Tonfolgen für bestimmte Tages- und Jahreszeiten vorschrieben. Nowgorod wird zur Schule des russischen Glockenschlagens. Die russische Sprache kennt das Wort „Glockenläuten“ nicht. Stattdessen finden wir Ausdrücke wie: Man schlägt in die Glocke oder Man läutet in die Glocke. Dabei wird ein Seil oder Strick am Klöppelende befestigt und der Klöppel damit an den Schlagring der Glocke gezogen.

Beim russischen Dichter Michail Lermontov verschmelzen die Monumentalarchitektur und die klangvollen Stimmen der mächtigen Glocken zu einem stimmungsvollen Klang-Bild, zur Klangsilhouette von Moskau:

Wie der Ozean hat auch Moskau seine eigene Sprache, eine starke, klangvolle, heilige Sprache, die Sprache des Gebets! …

Kaum erwacht der Tag, da ertönt schon von allen seinen goldbehelmten Kirchtürmen die harmonische Hymne der Glocken, gleich mit einer herrlichen, fantastischen Ouvertüre von Beethoven.

In ihr bilden das tiefe Brummen des Kontrabasses, das Dröhnen der Pauke und das Jubilieren von Geige und Flöte ein einziges großes Ganzes – und es hat den Anschein, als nähmen die körperlosen Laute sichtbare Gestalt an, als vereinten sich die Geister des Himmels und der Hölle unter den Wolken zu einem mannigfaltigen, unermesslichen, sich schnell drehenden Reigen! Oh, welche Wonne, dieser überirdischen Musik zu lauschen.

"Tanzende" Glöckner im Rhythmus der Glocken.

Die Architektur reagierte auf die rasante Entwicklung der Glockenmusik. Hingen die Glocken zunächst noch an Decken oder Holzgerüsten, so baute man infolge des zunehmenden Glockenbooms für sie eigene Glockentürme oder Glockenwände. Diese neuen Architekturelemente sollten über Jahrhunderte hinweg prägend für die russisch-orthodoxe Sakralarchitektur, eigentlich für das gesamte Spektrum der Monumentalarchitektur werden.

In der orthodoxen Kirche des Ostens ist der Kolokolist, der Glockenspieler, bis heute ein Musiker, der mit seinem Glockenorchester Glockenmusik aufführt, der sein „Orchester“ dirigiert und meist dafür auch noch komponiert.

Überschwänglich und dramatisch, wie es nur die russische Dichtung vermag, beschreibt Anastasija Cvetaeva den am Anfang des letzten Jahrhunderts lebenden Kotik, den Quasimodo der russischen Glöckner:

Berauscht von dem Glück, sein Glocken-Orchester zu hören, wirft sich Kotik mit dem ganzen Körper zurück, und bei der ersten vielstimmigen Antwort auf die Bewegung seiner lebendig gewordenen Hände erneut, soweit es die Stricke erlauben, zurückprallend, wird er eins mit den Glocken, in eins zusammengegossen, eingegossen in ihre anschwellenden hellen Stimmen, mit ihnen zusammen entbrennt er im Feuer jubelnder Klänge.  

Der Glockenturm Ivan der Große und die Erzengel-Kathedrale im Moskauer Kreml, E. Gilbertson 1838.

 

Die russischen Glöckner verstanden das Glocken-Schlagen als hohe Kunst und heiligen Dienst, wie von Smagin, einem Glöckner des 19. Jh. berichtet, wird.

Er habe vor Beginn  des Glockenschlagens seine Mütze abgenommen, sich bekreuzigt und erst nach einigen Anschlägen die Kopfbedeckung wieder aufgesetzt. Er war der festen Überzeugung, je inniger und harmonischer er seine Glocken schlage, desto mehr Menschen kämen zu den Gottesdiensten.

Glockenmusiker "läuten" die Festtags-Glocken, Mikhail Ville, um 1880.

Der Glöckner

Musiker im Glockenorchester